Vorfahrtsverzicht

Sebastian Hermesdorf
22.02.2021

Risikoabwägung unbedingt erforderlich

Im Straßenverkehr kommt es häufig vor, dass ein eigentlich vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer einen anderen Verkehrsteilnehmer bittet, dieser möge zuerst fahren. Über die Risiken, die für alle Beteiligten mit diesem Vorfahrtsverzicht einhergehen, informiert dieser Blogbeitrag.

Grundsätzlich ist es ohne weiteres möglich, auf das eigene Vorfahrtsrecht zu verzichten und einem anderen Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt zu überlassen. Hierbei ist jedoch höchste Vorsicht geboten, wie einem aktuellen Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm entnommen werden kann.

Das OLG Hamm hatte den Fall zu entscheiden, bei dem es zu einer Kollision im Kreuzungsbereich, bei dem die Vorfahrtsregelung „rechts vor links“ zur Anwendung kam. Von dem Verkehrsteilnehmer, der objektiv die Vorfahrt des anderen Verkehrsteilnehmers missachtet hatte, wurde geltend gemacht, man habe sich wirksam über einen Vorfahrtsverzicht verständigt.

Das OLG Hamm betonte, bei der Deutung von Gesten wie Handzeichen, Lächeln oder Nicken des an sich Vorfahrtsberechtigten Vorsicht geboten ist.

Von einem Vorfahrtsverzicht ist nur auszugehen, wenn der Berechtigte den Verzichtswillen in unmissverständlicher Weise zum Ausdruck bringt. Schon die geringsten Zweifel über das Ergebnis einer Verständigung gehen zu Lasten des Wartepflichtigen. Insbesondere betonte das OLG Hamm, dass der Wartepflichtige den Vorfahrtsverzicht beweisen muss, was im Rahmen eines Gerichtsverfahrens regelmäßig eine hohe Hürde sein wird.

Keineswegs kann ein Vorfahrtsverzicht allein aus dem Umstand abgeleitet werden, dass der Vorfahrtsberechtigte an der Kreuzung abgestoppt hatte.

Allein aus dem Halten vor der Kreuzung, das missverständlich sein kann, darf nämlich nicht ohne weiteres auf einen eindeutigen Verzicht geschlossen werden, betonte das OLG Hamm. Insbesondere dann nicht, wenn dieses Anhalten ersichtlich auf dem Umstand beruhte, dass der Vorfahrtsberechtigte seinerseits die – aus seiner Sicht – von rechts kommenden Fahrzeuge beachten und denen Vorfahrt gewähren musste.

Auch betonte das OLG Hamm, dass der Vorfahrtsberechtigte vor dem eigenen Anfahren nicht noch einmal nach links sehen musste. Der Vorfahrtsberechtigte darf nämlich grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Wartepflichtige sein Vorfahrtsrecht beachten wird. Eine generelle Verpflichtung, an Kreuzungen mit Rechts-vor-links-Regelung auch auf denkbare Vorfahrtsverletzungen von nicht bevorrechtigten Kraftfahrzeugen zu achten, gibt es nach den Regelungen der Straßenverkehrsordnung nicht.

Unter Berücksichtigung der gebotenen Abwägung der beidseitigen Verursachungsbeiträge muss sich der Vorfahrtsberechtigte nur die einfache Betriebsgefahr seines Fahrzeugs entgegenhalten lassen. Da dem anderen Verkehrsteilnehmer demgegenüber ein schuldhaftes und für den Unfall ursächliches Fehlverhalten, nämlich ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 S. 1 StVO, anzulasten ist, ist es nach Ansicht des OLG Hamm gerechtfertigt, die Betriebsgefahr des PKW des Vorfahrtsberechtigten vollständig zurücktreten zu lassen.

Der Vorfahrtsberechtigte erhielt somit seinen gesamten Schaden vom Haftpflichtversicherer des anderen Verkehrsteilnehmers ersetzt. Falls auch Sie Rechtsbeistand benötigen, zögern Sie bitte nicht, uns zu kontaktieren.

 

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